Demmerschoppen

Allerheiligen, Halloween und mein toter Opa...

Mein Opa war ein merkwürdiger Typ. Ständig erzählte er uns Kindern von unseren  toten Vorfahren. Wir fanden das immer spannend, selten gruselig, meist aber skurril. Opas Erzählweise war immer dieselbe: Ruhig, aber mit einem Ton, der uns ehrfürchtig wurden ließ. Seine Stimmlage änderte sich nicht, wenn er uns zuerst etwas über den Bergbau im Ruhrgebiet erklärte und im gleichem Atemzug und in der Überzeugung, es sei die Wahrheit, über Dracula, Tarantula oder Nosferatu berichtete.

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Oft saßen wir mit ihm in seinem Holzhäuschen, das von außen verfallen anmutete, von innen jedoch ein Paradies für Kinder war. Das Häuschen stand am Ende seines Gartens, kurz vor der Mauer, die sein Grundstück markierte. Opa hatte kreuz und quer allerlei selbst gemalte Bilder aufgehangen. Oft malte er Symbole von Sonne und Mond. Auch Bäume, die die vier Jahreszeiten symbolisierten, waren zu finden.

Wenn ein neues Kind in der Familie geboren wurde, verschwand Opa für drei Tage in sein Häuschen und malte einen neuen Baum.
Ich wurde im Winter geboren, so dass mein Bild eine Schneelandschaft zeigte, auf der eine Tanne stand. Einmal fragte ich meinen Opa, warum alle anderen Familienmitglieder, die im Winter geboren wurden, Laubbäume, also in diesem Fall einen Baum ohne Blätter bekommen hätten, ich jedoch einen grünen Baum. 
Opa murmelte: „Das entscheide doch nicht ich.“. Er drückte mir eine Kastanie in die Hand und sagte: “Los, wir bauen Kastanien-Engel“. Das war eines unserer Rituale.  

Jedes Jahr wurden 24 Kastanien-Engel gebaut, die dann im Garten, Richtung Westen ausgerichtet, aufgestellt wurden. Opa nannte Sie „Drachen“, aber Oma wollte es, dass wir Kinder mit Engeln zu tun hatten. Ein anderes Ritual waren unsere Reisen an Allerheiligen. Es ging nach Polen, wo wir jeden Abend wunderschön beleuchtete Friedhöfe besuchten. Wir wohnten bei polnischen Bergleuten. Es wurde erzählt, getrunken und getanzt.

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Woher Opa die vielen Menschen kannte, hatte ich mich nie gefragt. Ich erinnere mich aber noch genau daran, dass mir bei jedem Besuch ein Stein geschenkt wurde. Ein Bernstein. Das passierte immer ganz früh am Morgen. Ich wurde geweckt, bekam etwas Heißes zu trinken und eine dicke Scheibe Brot mit Butter: Dann umarmte mich einer der Polen, danach seine Frau. Sie hielt kurz meinen Kopf in ihren Händen, drückte ihn fest an ihren Bauch und steckte mir dann stumm einen Bernstein in die Hand. Der Mann sreichelte dann meine Stirn. 

Mein Opa starb im Jahre 1997. Er liegt begraben im Ruhrgebiet, in der Nähe einer geschlossenen Zeche. Genau dort habe ich letztes Jahr am 31.Oktober eine Halloween-Feier besucht. Zum ersten Mal. In einer alten Halle sollte das Fest der Toten, das Keltische Neujahrsfest stattfinden.
Da ich ein ähnlich entspanntes Verhältnis zum Tod und zu den Geistern der Verstorbenen habe wie die Kelten oder die Anhänger der Voodoo-Religion, war ich eher getrieben von Langeweile als von Neugier oder dem Interesse an Grusel und Horror. Ich schlenderte unmotiviert in die riesige Halle, in der ein Kostümspektakel, das nicht nach meinem Geschmack war, stattfand.
Ein Besucher im Nonnen-Kostüm stürmte, kaum hatte ich den Saal des Gruselns betreten, auf mich zu, drückte auf seinen Bauch und eine rote Flüssigkeit spritzte in Richtung einer „Untoten in Strapsen“.

Ich musste an Opa denken, an seine herrlichen Geschichten und an unsere Ausflüge an Allerheiligen. Es war zu vorgerückter Stunde, als ich mich entschied, schließlich war es ja bald Allerheiligen, meinem Opa einen Besuch abzustatten. Ich gebe zu, ich war erst dreimal auf diesem Friedhof. Es war ein wenig unheimlich dort, doch in Panik geriet ich nicht. Seltsam, denn zu dieser Zeit ging es mir nicht gut. Der Arzt sagte, ich sei überlastet und die Panikattacken seien ein Zeichen von völliger Überarbeitung und dem Fehlen einer Mitte, die ich bitteschön nun jetzt suchen und finden sollte. Beim Gang über den Friedhof fühlte ich mich ungewöhnlich harmonisch in mir ruhend.

Opas Grab liegt auf einer Wiese. Seine Freunde aus Polen haben dort zu seinen Ehren eine Tanne gepflanzt.Ich lehnte mich an die Tanne und spürte plötzlich etwas Ungewöhnliches an meiner Hand. Ich erschrak und dachte, es sei Blut, doch dann sah ich, dass es Harz war. Zuhause begutachtete ich das Harz auf meiner Hand. Es sah genauso aus wie eines von Opas Sonnensymbolen. Ich war mir nicht sicher, ob Harz auf der Haut gesundheitsschädigend ist und ich ich begann zu recherchieren. Was ich dabei herausfand: Harz dient der Pflanze zum Wundverschluss. Ich dachte an meine verwundete Seele. Ich fühlte mich gut wie seit langem nicht mehr.
Ich erinnerte mich an Opas Bild, welches er für mich gemalt hatte: Die Tanne.Ich dachte auch an die Tanne aus Polen, durchstöberte weitere Bücher und fand heraus, dass Bernstein ein fossiles Harz aus Nadelbäumen ist und dass Polen ein riesiges Bernsteinvorkommen hat.
 

Ich suchte unverzüglich in meiner Kommode nach der Holzschatulle, in der ich die Bernsteine aufbewahrte und begutachtete dann ausführlich jeden Einzelnen von ihnen. In allen Steinen erkannte ich eingeschlosse Tiere wie kleine Krebse oder Mücken. Plötzlich aber sahen Sie aus wie meine geliebten Kastanien-Engel, Opas Drachen. Es waren Zeichen aus einer längst vergangenen Zeit und einer anderen Welt.

Übrigens: Der Name Dracula kommt aus dem Rumänischen und bedeutet „der Drache“.

Onkel Reinhold, Demmerschoppen, Gisela Assindia